Ich beschäftige mich seit Jahren mit Portraits und habe die Erfahrung
gemacht, daß mir beim Zeichnen oft körperliche Merkmale auffielen,
die mir dann später, wenn ich die Personen besser kennenlernte, völlig
unwichtig wurden. Es gibt Fotos, auf denen die Personen gut getroffen
sind und andere, auf denen sie völlig fremd wirken. Und das, obwohl
Fotos "physikalisch objektiv" sind. Es ist offensichtlich, daß in
die Art, wie wir andere wahrnehmen vieles einfließt, was wir von ihnen
wissen und nicht nur das, was wir sehen. Wer zeichnet weiß, daß man
zuerst zeichnet, was man weiß, und nicht, was man sieht. Es ist mühsam
zu lernen, das zu zeichnen, was man sieht und die meisten bezahlen
diese Fähigkeit mit einem Verlust der Freiheit, das zu zeichnen, was
man weiß (Stichwort Kinderbilder). Gestik und Mimik sind dynamische
Prozesse, ein Bild ist statisch. Ein Bild mit einem Gesichtsausdruck,
der von der dargestellten Person nicht oft angenommen wird, der aber
sehr typisch ist, ist ähnlicher und wahrer als ein Bild mit einem
oft angenommenen, aber nichtssagenden oder dem Charakter widersprechenden
Ausdruck. Karikaturen sind anatomisch verfälscht, meist sogar anatomisch
unmöglich, und gerade deshalb besonders wahr (wenn sie gut sind).
Das Gegenstück dazu sind, allen bekannt, diese anatomisch korrekten
Fotos von Menschen mit halb geschlossenen Augenlidern, die manchmal
bis zur Unkenntlichkeit entstellend wirken.
Doch was ist typisch? Unser Bild vom anderen hängt von der
sozialen Situation ab, in der wir ihn kennen. Desto besser wir jemanden
kennen,
desto weniger Wert oder Aufmerksamkeit widmen wir dem äußeren
physikalischem Erscheinungsbild. Welche Augenfarbe hat ihr Partner?
Eine Lehrerin
von mir erzählte, daß ihr Mann sie den ganzen Abend erwartungsvoll
und amüsiert beobachtete, erst am nächsten Morgen fiel
ihr auf, daß
er seinen Bart auf einer Hälfte des Gesichtes (asymetrisch!!!) abrasiert
hatte. Sie war ihrem Mann gegenüber
nicht etwa blind, sie hat bemerkt, daß er eine Reaktion erwartete
und daß er belustigt war, sie hat sehr wahrscheinlich mehr
wahrgenommen als jeder Fremde, der sofort den halben Bart bemerkt
hätte. Desto
länger man jemanden kennt, desto wichtiger werden die "psychischen"
Gesichtszüge werden und die physischen dominieren. Ich stellte
mir also die Frage, wie mich andere, besonders Leute, die ich seit
längerem
kenne, sehen. Da nicht alle zeichnen können, kam ich auf die
Idee, ihnen mit Hilfe des Polizeizeichners das Portraitieren zu
ermöglichen.